Ein echter Fall aus der Praxis vom Business Coach Torsten Wulff.
Gefühle galten lange Zeit als etwas, das in der Arbeitswelt nichts zu suchen hat. So glaubten Führungskräfte, als Schwächlinge wahrgenommen zu werden, wenn sie Angst zeigen. Wutausbrüche sind verboten. Sachlich bleiben, das war die Devise.
Allmählich setzt sich auch im Business die Einsicht durch, dass zurückgehaltene, nicht zum Ausdruck gebrachte Gefühle langfristig krank machen. Aber nicht nur das: Ihre Verbannung ins Innenleben führt auch dazu, den Zugang zu wichtigen (Führungs-)Fähigkeiten zu blockieren.
Diese Erfahrung mache ich, Torsten Wulff, in meiner Arbeit als Business Coach immer wieder. Hier ein Beispiel aus der Region Pinneberg:
Frau W. hatte einige Wochen, bevor sie zu mir in die Praxis kam, eine Führungsposition übernommen. Sie stand vor der Aufgabe, in ihrer Filiale einiges zu verändern. Den Hintergrund bildete ein Managementkonzept, von dem sie überzeugt war. Zu ihren Überzeugungen gehörte es auch, sich in bestimmten Situationen als Führungskraft durchsetzen zu müssen. Dass sie dazu in der Lage ist, hatte sie auf ihrem bisherigen Weg immer wieder bewiesen. Nun aber stieß sie auf den Widerstand einiger ihrer Mitarbeiter, und plötzlich begann sie, notwendigen Konflikten und Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen. Mit der Zeit wurde ihr klar, dass sie mit ihrer Tendenz, Konzept- und Beurteilungsgespräche aufzuschieben, die Umstrukturierung selbst behinderte. Zweifel, ob sie der neuen Aufgabe wirklich gewachsen ist, nahmen ihren Anfang. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Um diese Dynamik umzukehren, war sie in meine Praxis als Business Coach gekommen. Sie wollte lernen, sich notwendigen Auseinandersetzungen zu stellen.
Mit einem solchen Anliegen steht Frau W. nicht allein. Die Gründe allerdings, warum (junge) Führungskräfte unerlässliche Auseinandersetzungen scheuen, sind vielfältig. Für eine nachhaltige Veränderung und Entwicklung ist es sinnvoll, die je individuellen Beweggründe in ihrer Biographie zu erkunden. Das ist meine Grundüberzeugung als tiefenpsychologisch ausgerichteter Business Coach und Psychotherapeut. Als ich Frau W. deshalb ermunterte, mir einiges aus ihrer Biographie zu erzählen, verweilten wir längere Zeit bei der Beziehung zu ihrer Mutter. Diese sei sehr problematisch: Angefangen habe alles, als sie 12 Jahre alt war und von der Trennung ihrer Eltern erfuhr. Der Vater hatte eine neue Frau kennengelernt. Es sei für die Klientin damals schwer gewesen, mit dem Vater im Kontakt zu bleiben. Zwar habe die Mutter die Besuche nicht unterbunden – nein, ganz im Gegenteil. Aber regelmäßig nach solchen Besuchen habe sie die Töchter ausgefragt. Frau W. erinnert sich in unserem Gespräch daran, wie enttäuscht die Mutter war, wenn sie von dem Besuch beim Vater positiv berichtete. „Mama ist dann immer still geworden und hat dann gesagt, so, jetzt wollen wir aber mal über was anderes reden.“ Hat sie dagegen von einer schwierigen Situation mit dem Vater berichtet, habe die Mutter interessiert nachgefragt, kommentiert und dann schlecht vom Vater geredet. „Sie hat den Schwierigkeiten mehr Bedeutung beigemessen als ich selbst.“
Später, nachdem sie als erwachsene junge Frau in ein anderes Bundesland gezogen war, habe die Mutter ihre tiefe Enttäuschung immer deutlicher ausgedrückt – dann, wenn Frau W. den Vater als erstes besuchte, wenn sie ein paar Stunden länger bei ihm blieb, und überhaupt: wenn sie ihn unterstützte. Auch heute empfindet die Klientin ihre Beziehung zur Mutter als ein gravierendes Problem in ihrem Leben. „Ich mag sie nicht um mich haben; wenn ich mich aber mal ein paar Tage nicht bei ihr gemeldet habe, kann ich es vor schlechtem Gewissen nicht mehr aushalten. Dann rufe ich sie an, ohne dazu Lust zu haben.“ Tage wie Weihnachten und Geburtstage seien riesige Anstrengungen und bestimmen schon Wochen vorher ihre Stimmung.
Für mich als Business Coach und Familientherapeut ist der Zusammenhang zwischen ihren beruflichen Problemen und der Beziehung zur Mutter offensichtlich.
Im Kontakt mit der depressiv strukturierten und zu Manipulation neigenden Mutter hatte es sich die Klientin abgewöhnt, ihre innere Gefühlswelt auszudrücken. Zwar war sie ihrerseits enttäuscht und wütend über die Reaktionen der Mutter, aber sie hatte zunehmend vermieden, die Mutter damit zu konfrontieren. Sie wollte sie nicht noch mehr enttäuschen und verletzen, stattdessen vor Eifersuchts- und Neidgefühlen schützen. Diese Reaktion war durchaus sinnvoll in einem System, das durch eine Abhängigkeit des Kindes von der Mutter gekennzeichnet war (während der Vater für die Versorgung nicht mehr voll zur Verfügung stand).
Gefühle sind Empfindungen, die sich im Inneren eines Menschen abspielen (intrapsychisch); der Ausdruck von Gefühlen geschieht außen, im Zwischenraum zwischen zwei oder mehreren Menschen (interpsychisch). Kann einem Gefühl im Außen kein Ausdruck verliehen werden, bleibt es ein intrapsychischer Vorgang. Gefühle wie Wut, Enttäuschung, Trauer oder Ekel werden im Inneren „verarbeitet“, und das heißt: Jemand wird wütend über sich selbst, ist enttäuscht von sich selbst oder empfindet eine tiefe, unerklärliche Traurigkeit.
So passiert es nun Frau W. als frisch gebackener Führungskraft. Im Zuge ihres Umstrukturierungsauftrages ist sie mit Gefühlsqualitäten bei einigen Mitarbeitern konfrontiert, die sie aus dem Kontakt mit ihrer Mutter kennt. Sie sind enttäuscht, ihr bisheriges Konzept verlassen zu müssen. Manche sind neidisch auf Kollegen, deren Veränderungen sie als weniger einschneidend wahrnehmen. Das zeigen sie, indem sie die besprochenen oder auch von ihr geforderten Veränderungen nicht umsetzen. Plötzlich greift das bewährte Muster aus der Kindheit. Die Klientin vermeidet die notwendigen Auseinandersetzungen, in denen ihre Enttäuschung und Ärger über den Widerstand der Mitarbeiter zum Ausdruck kommen könnten. Wie damals ihre Mutter will sie die Mitarbeiter nicht noch mehr enttäuschen… Jedoch, das in der Kindheit bewährte Muster ist jetzt – im Kontakt zwischen einer Führungskraft und ihren Mitarbeitern – alles andere als sinnvoll. Im Beratungsgespräch erkennt Frau W.: Hilfreich wäre ein konstruktiver Umgang mit den durch die Verweigerung ihrer Mitarbeiter ausgelösten eigenen Gefühlen. Aber ihre Fähigkeit dazu ist verstellt. Infolge der Enttäuschung ihrer Mitarbeiter wird ihr „Grundkonflikt“, jener mit der Mutter, aktualisiert; damit auch das alte Reaktionsmuster. Es blockiert nun ihre Fähigkeit, den Ausdruck eigener Gefühle konstruktiv für das notwendige Kritikgespräch mit den Mitarbeitern zu nutzen. Stattdessen ärgert sie sich jeden Abend über liegengebliebene und aufgeschobene Aufgaben, über ihre Unfähigkeit der Auseinandersetzung, ist sie enttäuscht von sich selbst und zweifelt an ihren Führungsfähigkeiten. In einer Sitzung weint sie sogar angesichts ihres vermeintlichen Versagens. Ich erkenne hier die nach innen und gegen das eigene Selbst gerichteten negativen Gefühle, deren äußeren Ausdruck die Klientin sich schon lange nicht mehr erlaubt.
In der Fachwelt ist lange bekannt, dass ein überwiegend nach innen, gegen sich selbst, gerichteter Umgang mit störenden Gefühlen zu psychosomatischen Reaktionen führen kann: zu chronischer Übelkeit, Verdauungsproblemen (bis hin zum Darmbluten), Verspannungen (mit Bandscheibenvorfällen als Folge) oder Engegefühl in der Brust beim Atmen (Hintergrund z.B. für Herzneurose). Auch Frau W. berichtete auf meine Nachfrage von häufig auftretender Übelkeit und ziemlich starken Verspannungen im Bereich von Schulter und Nacken, die sie so von sich überhaupt nicht kenne.
Was kann Frau W. nach diesen Erkenntnissen tun? Welche Entwicklungsaufgabe ist zu leisten?
In Kommunikationstrainings werden „Ich-Botschaften“ oder die vier Schritte der „Gewaltfreien Kommunikation“ als Königswege vermittelt, um im Arbeitskontext eigene negative Gefühle auszudrücken. Jedoch, eine nachhaltige Veränderung ist nach meiner Erfahrung und Überzeugung als tiefenpsychologisch ausgerichteter Business Coach eher dann möglich, wenn sie mit der Lösung des Grundkonflikts einhergeht. Im Fall von Frau W. bedeutet dies zu lernen, die Mutter zu enttäuschen. Anders gesagt, es geht darum, die Enttäuschung, Traurigkeit und Einsamkeit der Mutter auszuhalten. Solange sie eine Abgrenzung, ein ‚Nein‘ zurückhält, um die Mutter nicht zu enttäuschen, wird sich der Konflikt weiterhin in ihrem Inneren abspielen und sich verstärkt gegen sie selbst richten. Ihre Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit ihren Mitarbeitern wird weiter blockiert sein.
Sagen kann die Klientin zu ihrer Mutter: „Ich verstehe deine Enttäuschung und deine Traurigkeit“. Zugleich bedarf es der Haltung, sich für deren Gefühle und Leben nicht mehr verantwortlich zu fühlen. Wenn sie das schafft, wird ihr eine Übertragung auf die Auseinandersetzung mit den Mitarbeitern leicht fallen. Die Haltung und Formulierung hier könnte sein: „Ich verstehe, dass Sie enttäuscht sind. Ich kann Ihnen nachfühlen, welche Schwierigkeiten Sie mit den Veränderungen haben. (Mitgedacht: Verantwortlich bin ich dafür nicht.) Aber die Bedingungen, unter denen das Unternehmen jetzt agieren und bestehen muss, erfordern Veränderungen unserer Arbeitsweise.“
Bewältigt Frau W. diese Entwicklungsaufgabe, wird sie auch ausstehende größere Führungsaufgaben übernehmen können – ohne dass dies auf Kosten von Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensglück geht.
Dipl.-Psychologe Torsten Wulff