Die Unfähigkeit Aufgaben zu delegieren – Burnout!

Ein echter Fall aus der Beratungspraxis des Psychologen Torsten Wulff.

„Ich fühle mich gar nicht krank, nur unendlich erschöpft!“ Das sind die Worte von Herrn L. während eines kurzen Telefongesprächs, in dem er um eine Beratung bittet. „Ich muss meine Arbeit anders organisieren, sonst kann ich das nicht weiter machen.“ Die Verzweiflung des 47jährigen aus der Region Hamburg wird schnell deutlich. Er sei jetzt schon seit drei Wochen krankgeschrieben, erhole sich aber überhaupt nicht. Er schlafe viel, gehe regelmäßig (aber ohne Lust) zum Sport und fühle sich dennoch meistens abgespannt und interessenlos, fast lethargisch. Selbst nach langen Nächten mit bis zu zehn Stunden Schlaf sei er nach dem Frühstück schon wieder so müde, dass er am liebsten ins Bett zurückkehren möchte. Ich biete Herrn L. ein Erstgespräch in meiner Coaching- und Beratungspraxis in Hamburg an.

In diesem Gespräch erfahre ich, dass Herr L., nach einer handwerklichen Grundausbildung, nunmehr seit 20 Jahren bei einer großen Werft in Hamburg tätig ist. Während seiner Schilderungen entsteht in mir das Bild eines äußerst engagierten und erfindungsreichen Mannes, der sich immer weitergebildet und im Unternehmen schnell hochgearbeitet hat: über die Position als Leiter eines Montagetrupps, später den Wechsel in die Abteilung für Qualitätssicherung und Controlling bis zu einer leitenden Tätigkeit im Controlling mit Personalverantwortung für 15 Mitarbeiter.

Herr L. beteuert, sein Problem genau zu kennen: „Ich kann einfach nicht delegieren!“ Deutlich wird allerdings auch, dass diese „Unfähigkeit“ – wie so oft – einen durchaus positiven Effekt hatte: In all den Jahren habe Herr L. als hervorragende Kraft gegolten, in seiner Abteilung habe immer alles zum Besten gestanden. Und das, so sagt er, war immer so – auch schon in der Lehre und den ersten Jahren seiner handwerklichen Tätigkeit. Lieber habe er Überstunden gemacht als eine Arbeit mangelhaft erledigt zu wissen. Seinen damaligen Vorgesetzten sei er aber nicht nur dadurch aufgefallen. Als ungewöhnlich habe seine große Bereitschaft gegolten, Kollegen mit Rat und konkreter Hilfe zu unterstützen. „Ich fühle mich einfach gut, wenn ich helfen kann.“

Hier werde ich hellhörig. Hat Herr L. ein übermäßig großes Bedürfnis zu helfen, könnte hier ein Ansatz für eine nachhaltige Lösung seines Problems verborgen sein. Solche, langfristig wirksame, Lösungen begründen meinen Anspruch als Coach. Es wäre dann nicht damit getan, Herrn L. ein paar Strategien des Delegierens zu vermitteln und mit ihm einzuüben. Zu meiner tiefenpsychologisch ausgerichteten Arbeitsweise gehört es, den Schlüssel zu anhaltend wirksamen Lösungen in der Bewusstwerdung von unbewussten Motiven eines problematischen Verhaltens zu sehen. Deshalb hake ich an dieser Stelle der Darstellung meines Gesprächspartners ein. Mich interessiert sein Bedürfnis zu helfen näher, und ich frage, wie es sich denn heute in seiner täglichen Arbeit zeige. „Das ist eine sehr gute Frage“, antwortet Herr L. nachdenklich „und wohl der Kern des Problems“. Auch heute helfe er gerne, wo er kann. Vor allem seinen ihm unterstehenden Mitarbeitern. Dabei wisse er immer genau, woran die gerade arbeiten und wo sie vielleicht Unterstützung haben wollen. Und dem Fluss seiner Erzählung weiter folgend, erfahre ich nun, inwiefern dieses Verhalten – gut gemeint und in der Vergangenheit oft gelobt – zu jenem Problem wurde, das in die Erschöpfung und Krankheit geführt hat:

„Irgendwie ist meine Hilfe nicht mehr willkommen, oder nur noch selten. Das war früher anders. Oft erklären mir die Mitarbeiter, dass sie sich bevormundet und kontrolliert fühlen, dass ich ihnen keinen Spielraum lasse, Arbeiten auf ihre eigene Weise zu erledigen. Das kann ich nicht verstehen! Warum ist es ihnen so wichtig, eigene Wege zu gehen?“ Seine Stimme verrät die Irritation angesichts solcher Kritik. Mit der vielen Erfahrung, die er in seinem Berufsleben angesammelt hat, so glaubt Herr L., kenne er die effizientesten Abfolgen jeder Arbeit, analysiere schnell und sicher jeden Prozess und habe dann sofort einen optimalen Ablaufplan im Kopf. Seine Vorgesetzten bestätigen ihm genau diese Fähigkeit und ermutigen ihn darin, seine Mitarbeiter nach diesen Plänen arbeiten zu lassen.

Herr L. erzählt weiter, wie sich die Lage in den letzten Wochen vor seiner Krankschreibung zugespitzt hat. Ein längerer Prozess, an dem auch einzelne Mitarbeiter aus anderen Abteilungen gearbeitet haben, stand kurz vor dem Ende. Herr L. wusste, dass eine anstrengende Zeit bevorsteht, wie er sie aber gewohnt ist und bisher immer gut bewältigen konnte. Auch dieses Mal hatte er zum Ende des Projekts immer mehr Überstunden machen müssen. „Ich muss dann vieles selbst machen. Die Mitarbeiter würden es sonst nicht rechtzeitig schaffen.“ Auf meine Zwischenfrage erfahre ich, dass Herr L. in den Tagen vor einem Projektabschluss oft halbe Nächte durcharbeite und es gewohnt war, wenig zu schlafen.

Dieses Mal jedoch endete das Projekt in einer Katastrophe, so die Worte von Herrn L.. Er habe die Arbeiten zweier Mitarbeiter kontrolliert, einen Fehler in ihrer Beurteilung entdeckt, diesen korrigiert und die Arbeit der Beiden in der Nacht fertiggestellt. Am nächsten Morgen im Büro sei es zu einem heftigen Streit mit den Mitarbeitern gekommen. Sie waren von hoher Stelle für einen Fehler gerügt worden waren, den sie sich nicht erklären konnten. Der Blick in die Unterlagen machte bald deutlich: Der Fehler steckte in jener Arbeit, die Herr L. in der Nacht noch kontrolliert und korrigiert hatte. Ganz offensichtlich war die Arbeit seiner Mitarbeiter zuvor in Ordnung gewesen, und Herr L. hatte seinen Abschluss auf eine eigene fehlerhafte Analyse aufgebaut. Seine Mitarbeiter hätten ihm daraufhin unzulässige Einmischung in ihre Arbeit vorgeworfen. Sogar das Wort „Manipulation“ sei gefallen. Am Nachmittag im Büro seines direkten Chefs habe Herr L. alle Schuld auf sich genommen. Sein Versuch, das fehlerhafte Verhalten zu erklären, sei in einem Weinanfall geradezu erstickt. Der Chef habe ihn sofort zum Betriebsarzt geschickt. Das war vor drei Wochen. Seither sei er mit der Diagnose ‚Burnout‘ krankgeschrieben.

In der Zwischenzeit habe es Herrn L. an Ratschlägen von Freunden, dem Betriebsarzt, seinem Chef, wie er sein Problem lösen könne, nicht gemangelt. Darunter die Empfehlung, ein Seminar zum „Zeitmanagement“ im Raum Hamburg zu besuchen. Ich bestätige meinen Gesprächspartner in seiner Skepsis. In seinem Fall wird ein solches Seminar zu keiner nachhaltigen Lösung führen. Die hier zumeist vermittelten Konzepte, wie z.B. das Eisenhower-Prinzip, sind zwar durchaus geeignet, sich Orientierung in einer komplexen Aufgaben-Situation zu verschaffen. Sie vermitteln oder bestärken Ideen, wann eine Aufgabe delegiert werden kann und sollte. Das Problem von Menschen wie Herrn L. lässt sich damit jedoch nicht lösen. Auch L. J. Seiwert, der Experte zum Thema Zeit- und Lebensmanagement, kommt zu dem Schluss, dass allgemeine Konzepte und Modelle nicht helfen, wenn es um grundsätzliche Veränderungen im Verhalten eines Menschen geht. Vielmehr postuliert er einen Ansatz ganzheitlichen Zeitmanagements und einen individuellen Weg zur eigenen Zeitsouveränität.

So soll auch der Weg des Herrn L. aussehen: Ein Weg zum bewussten Verständnis dessen, was er tut, und was daran nicht funktioniert, über eine Erkenntnis, warum er es bisher dennoch fortsetzt, hin zu einer bewussten individuellen Korrektur durch wirksame Selbststeuerung. So wird ihm ein angemessenes Führungsverhalten gelingen.

Dementsprechend entsteht in mir schon während des Erstgesprächs ein Plan für die Arbeit mit Herrn L.. Ich erkläre ihm meine Bereitschaft, ihn auf seinem Weg aus dieser ernstzunehmenden Krise zu begleiten. So wie ich es üblicherweise tue, skizziere ich ihm das Vorgehen: Zuallererst werden wir Strategien des Delegierens erarbeiten, die für Herrn L. passend und daher machbar sind. Damit soll Herr L. ausreichend Sicherheit erlangen, um möglichst bald seine Arbeit wieder aufzunehmen. Auf dieser Grundlage ist der zweite, sehr viel wichtigere, Schritt möglich, nämlich dass wir uns eingehend mit seinem Führungsverhalten befassen. Dafür bedarf es seines konkreten Arbeitskontextes. Misstraut Herr L. einfach nur den Fähigkeiten seiner Mitarbeiter und hat womöglich sogar gute Gründe dafür? Nur vor dem Hintergrund der täglich stattfindenden Prozesse und Dynamiken seines Arbeitsalltags können wir anfangen wirklich zu verstehen, was es Herrn L. so schwer macht, Teile seiner Arbeit mit gutem Gefühl und ausreichend Vertrauen an seine Mitarbeiter abzugeben. Nur in der konkreten Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Arbeitsweisen seiner Mitarbeiter ist es möglich zu begreifen, warum sie die Arbeiten in genau der Weise ausführen sollten, die er für optimal hält. Und nur, wenn er vom Erleben aus seiner aktuellen Arbeit erzählen kann, können wir dem übersteigert wirkenden Bedürfnis, anderen zu helfen, auf den Grund gehen.

Aber wozu ist es mir wichtig, all diesen Dingen so eingehend und gründlich auf die Spur zu kommen?

Spätestens seit C. G. Jung ist bekannt, dass mindestens 80% unseres Selbst unbewusst sind. Als Psychologe weiß ich, dass wir keinen Einfluss auf unbewusstes Verhalten – wie z.B. übermäßiges Helfen – und unbewusstes Empfinden haben. Nur das bewusste Verhalten kann von uns beeinflusst, willentlich verändert werden. Daher geht es bei allen wirklichen Veränderungsprozessen zuallererst darum, uns alle Dynamiken und Hintergründe bewusst zu machen, die mit dem nicht mehr gewünschten Verhalten zusammenhängen. Im Beispiel von Herrn L. ist also wichtig, im Beratungsprozess den Boden dafür zu bereiten, dass ihm alle Umstände und vielleicht sogar schon ein paar Ursachen seines Verhaltens bewusst werden können: Bewusstwerdung als wesentlicher Teil des Beratungsprozesses. Es mag sein, dass sich hinter der großen Hilfsbereitschaft von Herrn L. ein maskierter Kontrollzwang verbirgt, begründet durch ein mangelhaft erfülltes Bedürfnis nach Sicherheit. Erst wenn ihm bewusst wird, was die Kontrolle über seine Mitarbeiter für ihn bedeutet, kann er ein anderes Verhalten zeigen. Möglich ist aber auch, dass es im Leben meines Klienten eine Zeit gab, in der ‚Helfen‘ eine äußerst bedeutsame Rolle spielte. Vielleicht führte nur „Helfen“ zu Kontakt oder Anerkennung. In diesem Fall kann Herr L. sich erst dann anders verhalten, wenn ihm bewusst wird, dass es die entsprechenden Umstände aktuell nicht mehr gibt.

Herr L. und ich wussten es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Meine Überlegungen aber haben ihn damals überzeugt. Wir vereinbarten zunächst einmal 5 Sitzungen von 2 1/2 bis 3 Stunden Dauer. Ich war sicher, dass wir in einer solchen Zeitspanne einen erlebbaren Erfolg haben und den Begleitungsprozess möglicherweise sogar in dieser Zeit abschließen können würden.

Inzwischen liegt dieser vielversprechende Beginn einer guten Zusammenarbeit etwas mehr als ein dreiviertel Jahr zurück. In der Letzten Woche hatte ich mit Herrn L. die Abschlusssitzung. Wie ich häufig erlebe, konnte auch Herr L. seine Not als Chance für eine positive Entwicklung nutzen, die ohne diesen Tiefpunkt nicht möglich gewesen wäre. Im nächsten Artikel auf diesem Blog werde ich Ihnen von dem Prozess berichten, durch den Herr L. aus seiner ganz persönlichen Krise herausgefunden hat.