Wenn der Weg zu unseren Fähigkeiten verstellt ist. Ein Fallbeispiel von Torsten Wulff.
Frau B. kam in meine Beratungspraxis, als sie nach ihren ersten sechs Monaten als Führungskraft von ihrem Arzt „aus dem Verkehr gezogen worden war“ – so ihre Formulierung. Sie habe sich auf ihre neue Rolle als Abteilungsleiterin sehr gut vorbereitet gefühlt, sagte sie mir im Erstgespräch zu einem Coaching. Und sie verstehe nicht, wie es zu dieser von Misserfolgen geprägten Entwicklung habe kommen können, an deren Ende ihr der Arzt „Angstattacken, Verdacht auf depressives Syndrom und Verdacht auf Burnout‘ bescheinigt.
Fast immer geht es bei Coachingprozessen für Führungskräfte um die Überwindung von Hindernissen, die einem kompetenten Führungsverhalten im Weg stehen. Diese Hindernisse sind heutzutage – aufgrund des gut entwickelten Personalmanagements in vielen Unternehmen – nur noch selten auf eine mangelhafte Auswahl oder Qualifizierung von Führungskräften zurückzuführen. Die Fähigkeiten liegen durchaus vor. Aber immer wieder gibt es Situationen, in denen der Zugang zu den eigenen Ressourcen verstellt ist. Der Auslöser dafür ist häufig eine gravierende Veränderung im Leben der betroffenen Person, sei es beruflich oder privat. Deshalb kann ein Training oder Coaching, das zuallererst oder allein die Vermittlung von Führungskompetenzen zum Inhalt hat, hier nicht helfen. Vielmehr ist es im Coaching nötig – neben der Berücksichtigung des Kontextes, in dem sich ein Führungsproblem oder eine Konfliktsituation entwickelt hat -, die tiefenpsychologischen Aspekte einer Führungsthematik ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.
Warum das so ist, und was sich hinter einem tiefenpsychologischen Coaching-Ansatz verbirgt, ist das Thema der folgenden Ausführungen. Der Fall von Frau B. dient mir dabei als Beispiel.
Bei einem tiefenpsychologisch ausgerichteten Coaching geht es darum, unbewusste innere Konflikte und psychische Prozesse zu erkennen, die den Erfolg des Ratsuchenden bisher verhindern. Spätestens durch die Erkenntnisse von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung wissen wir: Der weitaus größere Teil verhaltensbestimmender psychischer Prozesse findet vom Individuum unerkannt in dessen Unbewussten statt. Eine nachhaltige Veränderung im (Führungs)Verhalten ist überhaupt erst möglich, wenn in der Beratung (und darüber hinaus) dieser unbewusste Anteil zur Verfügung steht. Es handelt sich hierbei nicht um eine psychotherapeutische Behandlung, bei der krankhaftes Verhalten oder eine psychische Erkrankung geheilt werden soll. Bei einem tiefenpsychologisch ausgerichteten Coaching geht es vielmehr darum, psychisches Erleben (Wahrnehmungen, Bewertungen) und die zugrunde liegenden unbewussten Muster in den Beratungsprozess einfließen zu lassen. So kann der/die Ratsuchende nachhaltig zu seinen Ressourcen zurückfinden, und das Coaching führt in einer angemessenen Zeit eine wirkliche Veränderung herbei.
Zu meiner Konzeption eines tiefenpsychologischen Coachingprozesses gehört es weiter, der beruflichen Biographie des Coachees einen besonderen Wert beizumessen. Dies trägt nicht nur zu einem tieferen Verstehen des Anliegens bei (neben Informationen über das System, in dem sich ein (Führungs)Problem entwickelt hat). Es lassen sich auch die oben genannten psychischen Prozesse gut erkennen, wenn die Coachees ausreichend Raum für biographisches Erzählen haben.
In diesem Sinne ermunterte ich Frau B. zunächst, von ihrer jüngsten beruflichen Entwicklung bis zur Position der Abteilungsleiterin zu erzählen. Ich erfuhr, dass Frau B. in ihrer Vertriebsabteilung eines kleineren mittelständischen Unternehmens bis zur stellvertretenden Leiterin aufgestiegen war, bevor sie mit der Leitung einer neu gegründeten Abteilung im Vertriebsbereich betraut wurde: Zunächst hatte sie sich unter ihrem ehemaligem Chef fachlich äußerst qualifiziert und engagiert gezeigt. Immer wieder brachten ihre Vorschläge die Arbeit der Abteilung voran. Frau B. leistete wesentliche Beiträge, die die Umsätze der Mitarbeiter positiv beeinflussten. Kurzum, sie war eine herausragende Kraft unter den mehr als 20 Kolleginnen und Kollegen in ihrer Abteilung. Außerdem war sie wegen ihrer besonderen Herzlichkeit und ihres Einfühlungsvermögens bei Kollegen und Vorgesetzten gerne gesehen. Das eine oder andere Mal machte sie Vorschläge, einen Mitarbeiter oder eine Kollegin ihren Fähigkeiten entsprechend mit neuen Aufgaben zu betrauen. So trug Frau B. auch maßgeblich zu einer immer besseren Atmosphäre in der Abteilung bei.
Folgerichtig entschied die Personalabteilung bei nächster Gelegenheit, ihr mehr Verantwortung zu übertragen. Sie wurde die stellvertretende Leiterin ihrer Abteilung, die ‚rechte Hand vom Chef‘. Als solche kümmerte sie sich um die Probleme und „Wehwehchen“ der Mitarbeiter/innen. Sie bereitete Teammeetings vor, begleitete ihren Chef auf Sitzungen der Führungskräfte und des Vorstandes. Wann immer es um die Belange der Mitarbeiter oder um die sinnvolle Verteilung der Arbeiten in der Abteilung ging, führte sie das Wort.
Als nun die Vertriebsabteilung aufgrund von guten Zuwachsraten des Unternehmens geteilt wurde, war die Entscheidung, Frau B die neue Abteilung als Führungskraft anzuvertrauen, nur konsequent. Sie bekam damit Personalverantwortung für 23 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.
Jedoch kam es dann in den folgenden sechs Monaten zu der eingangs angedeuteten dramatischen Entwicklung: Mitarbeiter der Abteilung beschwerten sich über Wutausbrüche und offensichtliche Ungerechtigkeit in der Verteilung der Arbeiten. Die Vorgesetzten erlebten die neue Abteilungsleiterin als hölzern, wenn es darum ging, die Arbeit und den Fortschritt ihrer Abteilung darzustellen. Sie registrierten eine unangemessen persönliche Reaktion auf jede Form der Kritik, vor allem auf Vorschläge ihres ehemaligen Chefs. Die Umsatzzahlen der Abteilung stagnierten und gingen später sogar zurück (im Gegensatz zur Nachbar-Abteilung, bei der sich die prognostizierten positiven Effekte einstellten). Immer öfter ließ sich Frau B für einen oder zwei Tage krankschreiben – bis ihr Arzt sie aus dem Verkehr zog. Seitdem, seit nunmehr vier Wochen, war die Klientin krankgeschrieben.
Weiter erfuhr ich im Erstgespräch, dass Frau B. auf ihre neue Führungsrolle gut vorbereitet worden war. Sie habe mehrere Weiterbildungen und Seminare zu unterschiedlichen Aspekten von Leitungskompetenzen und Mitarbeiterführung bekommen, an denen sie auch mit Freude und Erfolg teilgenommen habe. Vieles habe sie wiedererkannt aus ihrer bisherigen Tätigkeit als stellvertretende Leiterin. Sie habe schon in den Weiterbildungen das Feedback erhalten, das Potenzial zu einer guten Führungskraft zu haben. Allerdings sei sie über die Teilung der Abteilung und das Angebot, zur allein verantwortlichen Führungskraft der Vertriebsabteilung Süd zu werden, dann doch sehr überrascht gewesen. Mit einer derart großen Führungsaufgabe habe sie nicht gerechnet.
Aber es schmeichelte ihr auch, für die verantwortungsvolle Aufgabe vorgesehen zu werden. Und an ihrem ersten Tag sei sie von ihren Mitarbeitern herzlich empfangen worden, habe Blumen und gute Wünsche bekommen. Neben neu eingestellten Mitarbeitern gehörten dazu viele Mitarbeiter/innen aus der alten Abteilung, mit denen sie vertraut gewesen sei.
Die Schilderungen von Frau B. machen zunächst deutlich: es handelt sich um eine fachlich kompetente Frau, die ausreichend qualifiziert ist und ein großes Talent für soziales Miteinander mitbringt. Die Personalentscheider unterlagen keinem Irrtum, wenn sie Frau B. ausreichend Führungsqualität und Durchsetzungsfähigkeit für die neue Aufgabe zutrauten. In dieser Situation ist Frau B. weder mit einem Kommunikationstraining noch mit einem Training von Führungsverhalten geholfen.
Möglich, dass die Tatsache, dass Frau B aus der eigenen Abteilung heraus zur Abteilungsleiterin aufgestiegen war, zu den Faktoren für die problematische Entwicklung gehört.
Als tiefenpsychologisch ausgerichteter Coach jedoch war mein Ohr auf eine Weise sensibilisiert, dass mich die eigenen Worte der Klientin auf eine weitere Spur brachten. Frau B schilderte die sich überraschend schnell einstellende negative Entwicklung mit folgenden Worten: „Als erstes habe ich einem älteren Mitarbeiter ein Aufgabengebiet entziehen müssen. Er war einfach nicht mehr gut genug. Er war so enttäuscht. Dann habe ich Frau M eine Abmahnung aussprechen müssen. Sie hatte für eine Kollegin ausgestempelt (diese sei ohne Absprache früher nach Hause gegangen). Frau M. Ist so eine Liebe. Die hat es gut gemeint. Sie konnte nicht verstehen, dass das Stempeln für eine Kollegin als Urkundenfälschung das gravierendere Vergehen war. Und dann musste ich eine Auszubildende vor Ende ihres ersten Ausbildungsjahres kündigen. Sie hat so geweint. Und das alles in einer Woche.“
In der hier wiedergegebenen Schilderung taucht das Wort „enttäuscht“ auf. Im weiteren Verlauf des Erstgesprächs fiel mir auf, dass Frau B immer wieder Elemente des Wortfeldes „Enttäuschung“ benutzte, wenn sie von den Reaktionen ihrer Mitarbeiter und Vorgesetzten auf ihr Verhalten in der neuen Rolle sprach.
Deshalb stellte ich in einem anschließenden Gespräch mit Frau B. das Thema ‚Enttäuschung‘ in den Vordergrund. Frau B. erinnert sich daraufhin an ihren Vater. „Er war immer total stolz auf seine Prinzessin. Egal was ich gemacht habe, mein Vater fand es toll. Immer wenn Freunde da waren erzählte er denen wie toll ich wäre und was ich wieder Tolles gemalt oder gesagt habe.“ Mit ihrer Einschulung dann habe eine dramatische Wendung stattgefunden. Der Vater, seinerseits Lehrer am örtlichen Gymnasium und Sohn eines Lehrers, habe kein gutes Haar an ihren schulischen Leistungen lassen können. Die Buchstaben hätten nicht ordentlich genug ausgesehen, das Rechnen sei ihm nicht schnell genug gegangen und die Hausaufgaben mache sie zu unkonzentriert. „Beim ersten Elternabend hat meine Lehrerin zu meinen Eltern gesagt ich wäre ein zu stilles Kind. Zu Hause gab es dann das größte Donnerwetter, das ich von ihm (dem Vater) je erlebt hatte.“ Der Vater habe immer wieder gesagt wie enttäuscht er von ihr sei. In der nächsten Zeit habe er sich immer mehr von ihr zurückgezogen, sei oft erst spät nach Hause gekommen. „Ungefähr drei Monate später haben meine Eltern mich zu sich gerufen und mein Vater hat erklärt, dass er ausziehen wird. Das hat er dann auch sofort gemacht. Ich glaube ich habe ihn dann nur noch drei oder viermal für einen kurzen Besuch gesehen. Er ist dann zu einer neuen Frau (mit Kind) in eine andere Stadt gezogen. Er hat sich um uns nicht mehr gekümmert. Nicht um meine Mutter und nicht um mich.“ Die Mutter sei nach der Trennung depressiv geworden und sei bis heute in gewissen Abständen in therapeutischen Behandlungen.
Ich fragte meine Klientin dann, was denn das Gemeinsame sei, weshalb sie diese Erinnerungen gerade jetzt hier in unserer Sitzung habe, in der es um ihre aktuelle Krise gehe. Genauso wie heute, erklärte mir Frau B, habe sie sich auch damals schuldig gefühlt für die Enttäuschung, die sie ihrem Vater bereitet habe… Seither sei sie überzeugt, der Vater sei gegangen, weil er zu sehr enttäuscht von ihr gewesen sei. „Genauso wie damals bin ich heute Schuld an der Enttäuschung die ich anderen mache und …“ Frau B. weint an dieser Stelle. Sie sei sicher, nicht mehr gemocht zu werden. Von ihren Mitarbeitern werde sie sogar bereits gemobbt. Die Vorgesetzten seien sehr enttäuscht von ihren schlechten Leistungen. Abgewendet hätten sie sich schon von ihr, sicher werde sie bald ihre Kündigung erhalten.
Damit war ein wichtiges Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Frau B aufgedeckt, das einen Großteil der problematischen Entwicklung erklären kann.
Wie im Fall von Frau B kommt es im (Berufs)Leben immer wieder zu Situationen, in denen die Talente und erworbenen Fähigkeiten nicht mehr zur Verfügung stehen – aus zunächst unerklärlichen Gründen. Oft liegen hier Störungen vor, deren Ursache in längst vergessenen oder wenigstens überwunden geglaubten biographischen Ereignissen liegen. Durch eine neue Lebenssituation oder berufliche Herausforderung werden sie revitalisiert und bekommen eine Relevanz für das aktuelle Verhalten.
Wird in der Beratung Raum für biographisches Erzählen und das Erkennen eigener biographisch bedingter Deutungsmuster – als Ursache für Blockaden – geschaffen, kann in eben dieser Atmosphäre später eine Umbewertung der damaligen Erlebnisse stattfinden. Dies bildet dann die Grundlage dafür, dass der Klient oder die Klientin zu ihren eigentlichen Stärken zurückfinden und nunmehr ungehindert neue Fähigkeiten erwerben und Erfahrungen integrieren kann. In unserem Beispiel habe ich Frau B. ermutigt, ein klärendes Gespräch mit ihrer Mutter zu führen. In diesem Gespräch hat Frau B. von dem Alkoholismus des Vaters erfahren. Die Mutter sei damals froh gewesen, dass ihr damaliger Mann so wenig Anspruch auf die Tochter gehabt habe. Frau B. konnte nachträglich erfahren, wie wenig schuldig sie an der zerrütteten Ehe ihrer Eltern war. Und sie konnte die weitere Entwicklung in einem anderen Licht sehen: „Ich jedenfalls bin nicht Schuld gewesen! Und vielleicht war alles ganz gut, so wie es dann gekommen ist.“
Frau B. hat als Ergebnis der Beratung, von sich aus und in gutem Einvernehmen, ihren bisherigen Arbeitgeber verlassen. Ohne dass wir darüber gesprochen haben, ahnte ich, dass Frau B. endlich einmal zur Täterin werden und aktiv jemanden verlassen wollte, in diesem Fall ihre Firma. Wahrscheinlich war sie sich dieser Intention selbst gar nicht bewusst. Dennoch hat sie sich durch diese aktive Handlung ein großes Stück befreit von den Hindernissen, die plötzlich zwischen sie und ihre Fähigkeiten getreten waren. Kurze Zeit später nahm Frau B. eine führende Position in einem internationalen Konzern an und leitet dort heute einen wichtigen Teil der Abteilung für Personalentwicklung!
Das Fallbeispiel macht sehr gut deutlich: Es lohnt sich, für die Erklärung von Defiziten in Führungskompetenz, Entscheidungsfähigkeit oder Durchsetzungsvermögen tiefenpsychologische Erklärungsmodelle mit in Betracht zu ziehen oder gar ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. Ohne ein Wissen um die biographischen Ereignisse in Frau B’s Leben und ohne deren Einordnung in einen richtigen Zusammenhang hätte dieses Coaching nicht zu einem nachhaltig guten Ergebnis führen können. Dafür bedarf es fundierter psychologischer Kenntnisse und umfassender Erfahrung in systemischen und tiefenpsychologischen Interventionsverfahren. Zum einen, um die „Spuren“ zu erkennen, die sich in den eigenen Worten der Klienten andeuten (im Fall von Frau B war das die „Enttäuschung“). Zum anderen, um die Dynamik von Störungen zu erkennen, die ihre Ursache in vergessenen oder überwunden geglaubten biographischen Ereignissen haben, um sie in den Coachingprozess integrieren und dadurch bei der nachhaltigen Überwindung helfen zu können.
Dipl.-Psychologe Torsten Wulff